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Allgemein => Sonstiges => Fernsehen => Thema gestartet von: 4010 am Januar 05, 2011, 20:05:15

Titel: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: 4010 am Januar 05, 2011, 20:05:15
Letztens habe ich beim Zusammensitzen nach der Sonderfahrt folgendes Buch erwähnt, nachdem es vielleicht auch andere Forenuser interessieren könnte, stelle ich es einmal rein: "Die Zukunft der Städte" von Harald A. Jahn (Poibos Verlag, ISBN 978-3-85161-039-0).

Das Buch zeigt, wie Stadtgestaltung, von der wir in Österreich (und in Graz) nicht einmal träumen können, heutzutage ausschauen kann. Mit Hauptaugenmerk auf die moderne französische Tramway wird gezeigt, wie Stadterneuerung anderswo abläuft.

Unsere Städte sind in Gefahr: Zersiedelung, fehlender Grünraum, Verkehrshölle. Während mancherorts immer noch Verkehrskonzepte von vorgestern verwirklicht werden, haben viele Kommunen in Frankreich einen neuen Weg eingeschlagen: Dort ist die Straßenbahn das Kernstück der umfassenden Stadterneuerung, mit viel Grün, Rasengleis, Baumpflanzungen. Der öffentliche Raum wird in höchster Qualität neu gestaltet; die Bürger nehmen ihre Stadt als Lebensraum neu in Besitz.

Harald A. Jahn beschreibt auf 240 Seiten die Stärken der europäischen Städte, ihre Bedrohung durch den Autoverkehr und den französischen Lösungsansatz. Das Buch stellt auf 400 durchgehend farbigen Abbildungen alle neuen Tramwaynetze in ganz Frankreich vor, aber auch die eigenartige Planungsgeschichte Wiens, deren derzeitiger Fokus auf Straßen- und U-Bahn-Bau allen Wünschen nach einer nachhaltigen, kleinteiligen, menschlichen Stadt entgegenläuft.

"Die Straßenbahn hat uns einen Park gebracht" - das ist die Kernaussage in den französischen Gemeinden. Damit ist die Straßenbahn der neuen Generation das Optimum zur Rettung des öffentlichen Raums: Sie ist die Zukunft der Städte.



Auch für Nicht-Frankophile ist dieses Buch ausdrücklich empfohlen. Es zeigt deutlich, dass die Straßenbahn einfach das einzige Verkehrsmittel ist, dass sich nahtlos in die Stadt einfügt - und wie öffentlicher Raum ausschauen kann, wenn man auch nicht nur auf die Autofahrer achtet.

Der Preis von knapp 40€ ist mir am Anfang zwar etwas hoch vorgekommen, aber das ist es wert.
Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: PatSpeesz am Januar 05, 2011, 21:39:35
Mei Suppi!!!  :D
Danke nocheinmal für den Tip!!!  :one:

Das werd ich mir so bald wie möglich zulegen!!!

Schade nur, dass die Herrschaften, die die Lektüre dieses Buches dringender nötig hätten,
es wohl nie zu Gesicht bekommen werden...  :P

Den Preis dürfte dieses Buch wohl wert sein, Fachbücher in diesem Segment sind halt leider
nicht billig.
Zum Vergleich:
"Neue Straßenbahnen in Frankreich" von Christoph Groneck, EK- Verlag, 2003, ISBN 3-88255-844-X,
quasi der Vorgänger,
beschränkt sich weitgehend auf eine nüchterne Darstellung der bis dahin vorhandenen bzw im Aufbau
befindlichen Systeme, ohne näher auf die damit einhergehende Entwicklung der Städte einzugehen,
hat "nur" 168 Seiten mit ca 180 Bildern, überwiegend s/w, und kostet auch 35 €...

LG Rainer
Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: Amon am Januar 05, 2011, 21:59:17
Interessant wäre, wie die Planungen in Frankreich im Vorfeld von der Bevölkerung angenommen wurden. Grundsätzlich glaube ich, dass auch in Graz durchaus bekannt ist, wie schön man Straßenbahn theoretisch gestalten könnte, jedoch ist einerseits die Angst vor Protesten der Autolobby und andererseits deplatziertes Praxisdenken (Rasengleise müssen in Graz von Straßenfahrzeugen befahrbar sein, daher gibt es in Graz auch keine echten Rasengleise) ein Hindernis. Soll heißen: Wenn sich jemand trauen würde, wäre auch bei uns vieles möglich. Wenn....
Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: 4010 am Januar 05, 2011, 22:27:26

Das werd ich mir so bald wie möglich zulegen!!!

Schade nur, dass die Herrschaften, die die Lektüre dieses Buches dringender nötig hätten,
es wohl nie zu Gesicht bekommen werden...  :P


Gerne, ich kann's auf jeden Fall jedem nur empfehlen - die Druckqualität ist sehr gut und auch die Texte sind lesenswert. Also nicht nur die Bilderl anschauen. ;D

Und ja, leider...  :-\ Aber man könnte den Buchtipp ja einmal der Grünen Vizebürgermeisterin schicken, die ist ja u.A. für Verkehrsplanung zuständig.


Zum Vergleich:
"Neue Straßenbahnen in Frankreich" von Christoph Groneck, EK- Verlag, 2003, ISBN 3-88255-844-X,
quasi der Vorgänger,
beschränkt sich weitgehend auf eine nüchterne Darstellung der bis dahin vorhandenen bzw im Aufbau
befindlichen Systeme, ohne näher auf die damit einhergehende Entwicklung der Städte einzugehen,
hat "nur" 168 Seiten mit ca 180 Bildern, überwiegend s/w, und kostet auch 35 €...


Die Texte zu den einzelnen Städte sind im Jahn-Buch auch nicht wirklich lang (meist 1-2 Seiten), aber dafür ist der Ansatz ganz anders: Es geht nicht ums technische, es geht mehr um die - übertrieben gesagt - Philosophie hinter der ganzen Geschichte.

Und wenn man bedenkt, was seit 2003 in Frankreich alles passiert ist.... ;) Ich kenne das Buch von Groneck leider nicht, aber ich habe das gleiche schon von anderen Seiten auch gehört.

Übirgens gibt es von ihm auch eine Dissetation zum Thema Französische Planungsleitbilder für Straßenbahnen hier als PDF (http://elpub.bib.uni-wuppertal.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-1044/dd0703.pdf) bzw. eine Präsentation hier (auch als PDF) (http://www.groneck.de/diss_vortrag.pdf). Beides halt sehr wissenschaftlich, während bei "Die Zukunft der Städte" wie schon erwähnt der Ansatz nicht so technisch-wissenschaftlich ist.


Interessant wäre, wie die Planungen in Frankreich im Vorfeld von der Bevölkerung angenommen wurden.


Die Straßenbahn ist nun seit einigen Jahren in Frankreich dermaßen beliebt, dass sich sogar die einzelnen Viertel untereinander streiten, welche zuerst ihre Tram bekommt. Mit anderen Worten: Die Leute freuen sich auf ihre Straßenbahn. Und das wohl nicht nur, weil sie ein leistungsfähiges (und in der französischen Ausführung auch schnelles) Verkehrsmittel ist, sondern einfach auch, weil sie schön ist und auch gewissermaßen eine Identität für die Stadt ist. Wie bekannt, werden ja die Fahrzeuge von nahezu jeder Stadt selbst gestaltet...
Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: invisible am Januar 06, 2011, 19:47:49

Schade nur, dass die Herrschaften, die die Lektüre dieses Buches dringender nötig hätten,
es wohl nie zu Gesicht bekommen werden...  :P


In der Stadtverkehr-Austria-Mailingliste meinte Harald, dass auch eine der für die Stadtplanung in Wien zuständigen Magistratsabteilungen ein Exemplar bestellt hätte. Andererseits sitzen dort vermutlich auch schon immer Leute die ihr Handwerk eigentlich verstehen und sich auch nur mit idiotischen Vorgaben aus der Politik herumschlagen müssen  :-\
Erstellt am: 06 Januar 2011, 19:42:54

Interessant wäre, wie die Planungen in Frankreich im Vorfeld von der Bevölkerung angenommen wurden.


Was ich so mitgekriegt habe sehr positiv. Das liegt aber auch daran wie die Planungen dort kommuniziert werden. Die "6+"-Kampagne in Graz war z.B. für österreichische Verhältnisse schon ziemlich gut, aber trotzdem absolute kein Vergleich zum französischen Standard. Dort wird die Straßenbahn von Anfang an als stylisches, modernes Verkehrsmittel verkauft, das eine (die!) große Chance ist die Stadt neu und lebenswerter zu gestalten. Die dortigen Prospekte und Infofolder sehen aus und vor allem vermitteln ähnliche Gefühle wie man sie sonst eher von Auto- oder Parfumwerbung gewohnt ist.
Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: Sanfte Mobilität am Januar 06, 2011, 19:54:26
Also, das Groneck ist schon ziemlich gut. Das neue von Harald Jahn werde ich mir sicherlich bald zu legen.

Nochwas: das wichtigste des Erfolgs der Französischen Straßenbahn-Renaissance wurde je schon gesagt, nämlich das die Straßenbahn ein Teil der Stadterneuerung ist und wieder "urban life" in die französichen Groß- und Mittelstädte bringen soll, die waren bzw. sind durch den massiven Straßenausbau und den Folgeerscheinungen (Leute ziehen an den Stadtrand/aufs Land, große Einkaufszentren in der Peripherie, Zentren nur mehr für Verwaltung etc.) gebeutelt. Damit hat die Straßenbahn - auch wie das ganze aufgezogen ist (durchgehend Rasengleise, einheitliche Haltestellen und Fahrzeuge etc.) - einen ganz anderen Stellenwert. Bei uns wird Straßenbahn nur als störend empfunden ...

W.
Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: Amon am Januar 06, 2011, 23:02:10
Ich habe mir das Buch schon beim Buchhändler meines Vertrauens via E-Mail bestellt. Hoffentlich ist es bald da. Natürlich kann man es auch beim Verlag kaufen, aber 4,59 Euro für Versand innerhalt Österreich sind mir dann doch etwas zu happig. Falls es beim Buchhändler nicht klappen sollte, wäre ich für eine Sammelbestellung zu haben.

Zu meiner vorigen Frage: Dass die Straßenbahn mittlerweile in Frankreich beliebt ist, steht außer Frage. Aber wie war es am Anfang? Ich meine, wenn man in Graz so ein Projekt starten würde, gäbe es haufenweise Proteste, weil Fahrstreifen, Parkplätze usw. verlorengehen. Verschiedene Situationen in Graz zeigen ja immer wieder, dass Umgestaltungen im Sinne des ÖPNV und der Fußgänger entweder nicht funktionieren, oder solange kritisiert werden, bis man eine faule Kompromisslösung findet. Wie war das in Frankreich? Wie reagierten die Autofahrer auf die massiven Beschränkungen durch die fast durchgehend oberirdischen Straßenbahnen?
Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: Empedokles am Januar 07, 2011, 07:33:05

... dass auch eine der für die Stadtplanung in Wien zuständigen Magistratsabteilungen ein Exemplar bestellt hätte.
Andererseits sitzen dort vermutlich auch schon immer Leute die ihr Handwerk eigentlich verstehen und sich auch nur mit idiotischen Vorgaben aus der Politik herumschlagen müssen.


Genau so ist es!    :one:


LG, E.
Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: 4010 am Januar 11, 2011, 18:05:06

Zu meiner vorigen Frage: Dass die Straßenbahn mittlerweile in Frankreich beliebt ist, steht außer Frage. Aber wie war es am Anfang? Ich meine, wenn man in Graz so ein Projekt starten würde, gäbe es haufenweise Proteste, weil Fahrstreifen, Parkplätze usw. verlorengehen. Verschiedene Situationen in Graz zeigen ja immer wieder, dass Umgestaltungen im Sinne des ÖPNV und der Fußgänger entweder nicht funktionieren, oder solange kritisiert werden, bis man eine faule Kompromisslösung findet. Wie war das in Frankreich? Wie reagierten die Autofahrer auf die massiven Beschränkungen durch die fast durchgehend oberirdischen Straßenbahnen?


Probleme und Proteste gibt es natürlich immer wieder (jetzt auch noch), aber in Frankreich werden die Vorteile einer Tram auch offen kommuniziert. In Österreich scheint man ja immer noch der Ansicht zu sein, dass wenn man schon eine Straßenbahn bauen muss, man dies möglichst im Geheimen machen muss... ::)

Aber aller Anfang war schwer. Begonnen hat es in Nantes, der damalige Bürgermeister Alain Chenard ("Die Straßenbahn ist die städtebauliche Idee des Jahrhunderts!") hat ~1978 die Einführung der Straßenbahn beschlossen. Im Wahlkampf 1983 hat er dann allerdings gegen einen straßenbahnfeindlichen Kandidaten verloren (welcher dann, als der Erfolg da war, die Verlängerung der Tramway beschlossen hat), 1985 wurde die Straßenbahn eröffnet. 4 Jahre später hat seine Partei die Stadt wieder zurückerobert. In wie weit der Wahlkampf mit der Straßenbahn zu tun hatte, weiß ich nicht, aber im Nachhinein meinte Chenard: «...le tramway s'inscrivait partout, à condition de réaménager complètement les rues pour régler le problème des autres modes de transport. C'était le plus intelligent, mais était-ce raisonnable? Politiquement c'était un suicide!», zu deutsch: "Die Straßenbahn wurde allseits als das Mittel gehandelt, um die Straßen komplett neu zu gestalten und die Probleme der anderen Verkehrsmittel zu lösen. Das war das Intelligenteste, aber war es vernünftig? Politisch war es Selbstmord!"
Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: Commanderr am Januar 11, 2011, 19:48:29

Politisch war es Selbstmord!"


Politischer Selbstmord steht gegenwärtig vor allem in Graz an der Tagesordnung, wird aber von der Bevölkerung gekonnt ignoriert und schließlich doch wieder von den Politikern schöngeredet.
Warum erinnert mich das bloß an den Grazer Stadtpark mit seinem "schiefen Nagel"?
Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: Michael am Januar 11, 2011, 20:11:37
Treffender kann man es auch kaum formulieren!  :one: :police:
Titel: Buchempfehlung
Beitrag von: leonhard am Februar 06, 2011, 20:43:13
Zum Thema "STADTENTWICKLUNG" hat      HARALD A.      J A H N    
dieses Werk in Buchform verfasst, dessen Lektüre ich allen Planern von Berufswegen sowie den Hobbyplanern im Forum sehr ans Herz legen möchte!!!!!

Titel: "Die Zukunft der Städte       Die französische Straßenbahn und die Wiedergeburt des urbanen Raums"
Verlag: Phoibos Verlag, Wien 2010

ISBN Nummer:     978-3-85161-039-0

daraus ein Hinweis:
Vergleich der Gesetzeslage in Frankreich und der in Österreich     S.27, letzter Absatz bis S.28 Ende des 1. Absatzes
S. 28 - "Warum gerade Tramway..."
ab S. 35 "Neue Straßenbahnen in Frankreich" - Allgemeines dazu und hernach die Beschreibung der Verkehrssitutation in den verschiedenen Städten
ab S. 199 beschäftigt sich der Autor mit Wien
Viel Spaß bei der Lektüre wünscht allen Interessierten
leonhard
Titel: Re: Buchempfehlung
Beitrag von: 4010 am Februar 06, 2011, 20:47:44
Siehe hier: http://www.styria-mobile.at/home/forum/index.php/topic,3885.0.html ;)
Titel: Re: Buchempfehlung
Beitrag von: kroko am Februar 06, 2011, 20:48:04
Wurde bereits empfohlen und diskutiert, siehe hier:
http://www.styria-mobile.at/home/forum/index.php/topic,3885.0.html
Titel: Re: Buchempfehlung
Beitrag von: leonhard am Februar 09, 2011, 08:10:16
Danke für den Hinweis! - Das Buch habe ich über den Tipp aus dem Forum gelesen, sodass also meine Empfehlung eine nachträgliche war.
leonhard
Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: Martin am Februar 09, 2011, 08:32:54
MOD EDIT: Themen aus Gründen der Übersichtlichkeit zusammengeführt.


Danke für Deine nachträgliche Rezension.

Titel: Re: Buchtipp: Die Zukunft der Städte
Beitrag von: kroko am Februar 18, 2011, 18:35:34
Hab inzwischen auch ein Exemplar erworben. Ist das Geld auf jeden Fall wert - ein sehr schönes Buch, und wirklich begeisternd.
Titel: Tramways als Zukunft der Städte
Beitrag von: f-taler am Juli 06, 2011, 15:12:11


Die Zukunft der Städte

Neues Lebensgefühl an der Côte d'Azur - mit lautlosen Straßenbahnen auf Rasengleis auch im Zentrum

von Harald A. Jahn

Die Veränderung der Welt beschleunigt sich, die Städte stehen, genau wie ihre Bürger auch, vor neuen Herausforderungen. Vermeintlich steigende Verkehrsbedürfnisse, Auseinanderdriften der sozialen Gruppen, Zu- und Abwanderung, knapper werdende materielle Ressourcen: Schwierige Aufgaben warten auf die Städte. Vor allem verstehen aber erst wenige wirklich die Tragweite des Begriffs ,,Peak Oil": Die abnehmende Fördermenge und der steigende Verbrauch in den früheren Entwicklungsländern werden in den nächsten Jahren zu einem enormen Anstieg der Energiepreise führen. Peak Oil ist kein Zukunftsszenario - Peak Oil ist jetzt. Österreichs Städte sind darauf nicht vorbereitet, immer noch versucht man geradezu fanatisch, in unmaßstäbliche Verkehrsgroßprojekte zu investieren: Die neue Gürtelabfahrt der Südosttangente in Wien, die Linzer Westringautobahn - es scheint fast so, als möchte man erreichen, mit möglichst hoher Geschwindigkeit an die Wand zu fahren.

Seit 2008 hat eine immer schärfer werdende Krise die Wirtschaftswelt erfasst; 2010 beginnen die Schulden der europäischen Staaten die Grenzen der bisherigen Wirtschaftskonzepte aufzuzeigen. Konsum um jeden Preis und ewiges Wachstum werden zu einem Auslaufmodell; den Menschen wird immer klarer, dass das seit Jahrzehnten gewohnte System ein Ablaufdatum hat. Die Schuldenkrise der Gemeinden, Städte, Länder wird uns die nächsten Jahre, eher Jahrzehnte, begleiten; die knapper werdenden Mittel in einzelne Großprojekte zu investieren erscheint verantwortungslos.

Tatsächlich beginnen immer mehr Kommunen, vor allem in Westeuropa, die Stadt wieder nach menschlichen Maßstäben umzugestalten - und je konsequenter dies geschieht, desto überzeugender sind die Ergebnisse. Immer mehr Städte erkennen, dass nicht pompöse Hochhausviertel oder glitzernde Einkaufszentren ihren Erfolg ausmachen, sondern kleinräumige Umgestaltung nach den Bedürfnissen des einzelnen Individuums. Zentrale Rolle im Stadtumbau spielen der öffentliche Raum und die Aufteilung der Fläche für Zwecke des Aufenthalts oder der Fortbewegung. Es ist tatsächlich die ganz einfache Kernfrage: Ist die Stadt so lebenswert, dass sich die Bürger gerne in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung aufhalten - oder muss man die freien Flächen denen zur Verfügung stellen, die mit ihren Kraftfahrzeugen möglichst schnell wegwollen? Es liegt auf der Hand: Ist die Nachfrage nach schnellen FORT-Bewegungsmitteln so stark, dass man ihr den größten Teil des öffentlichen Raums widmen muss, dann machten die Regierenden der Stadt offensichtlich Fehler. Diese Fehler müssen nicht passieren, und wo sie gemacht wurden, können sie korrigiert werden. Seit den 1960er-Jahren wurden die Städte konsequent für den Autoverkehr umgebaut. Nun steht uns ein erneuter Umbau bevor, diesmal zum Wohl des Einzelnen, zur Erhöhung der Lebensqualität im unmittelbaren Wohnumfeld. Auch wenn es in Österreich noch unvorstellbar scheint - anderswo hat dieser Rückbau bereits begonnen.

Eine wesentliche Erkenntnis dabei ist, dass das Gegenteil der bisherigen Praxis notwendig ist: Verkehrsreduktion statt neuer Straßen, Entschleunigung statt Geschwindigkeitswahn, Qualität statt reiner Transportleistung. Die Stadt selbst muss die Aufenthaltsqualität bieten, die so viele am Stadtrand gesucht haben. Die menschliche Dimension, die Kleinräumigkeit muss wiedergefunden werden. Abgewirtschaftete Stadtviertel, abgewohnte Straßen müssen wiederbelebt und neu interpretiert werden. Das Auto muss die Dominanz verlieren; auch die Menschen müssen wieder zueinander finden, den öffentlichen Raum neu entdecken und besetzen. Nimmt man die Geschwindigkeit aus der Stadt, wächst ihre Qualität. Verhindert man das moderne Nomadentum, gewinnt die Stadt ihre Kraft zurück. Entfernt man den egoistischen Autoverkehr, wird die Gesellschaft sozialer.

Ein Land in Europa geht mit der ihm eigenen Konsequenz diesen neuen Weg: Etliche Städte in Frankreich haben begonnen, neue elektrische Verkehrssysteme einzuführen, und fast immer sind es Straßenbahnen neuer Generation. Immer wird dabei der Autoverkehr reduziert, werden Fahrstreifen ersatzlos aufgelassen, Fußgängerbereiche geschaffen, die Stadträume rekultiviert. Es war aufgrund der Gesetzeslage in Frankreich sicher einfacher als anderswo, diesen Prozess zu beginnen. Mehr als in anderen Ländern steht dort das Allgemeinwohl über den Ansprüchen Einzelner. Die Ballungsräume sind mittlerweile verpflichtet, Verkehrsentwicklungsplänen zu folgen, die ausdrücklich umweltfreundliche Maßnahmen vorschreiben: von der Stärkung des Fußgänger-, Fahrrad- und Öffentlichen Verkehrs über die Reduktion des Autoverkehrs bis hin zum Auftrag an die Arbeitgeber, ihre Mitarbeiter zum ,,Umsteigen" auf den Umweltverbund zu animieren. Auffällig schon hier der im Vergleich gesamtheitliche Ansatz.

,,Die Straßenbahn hat uns einen Park gebracht!"

Das ist eine oft gehörte Aussage der Bürger französischer Städte. Zentraler Punkt der dortigen Stadtumbauten ist die Begrünung des öffentlichen Raums. Das Rasengleis wurde zum zentralen Sympathieträger der neuen Verkehrssysteme. Es ist nicht nur schön, sondern ein wichtiges Element im lokalen Klima, im Mikroklima der Stadt. Ansätze zur Verbesserung des Stadtklimas gibt es zahlreiche, und sie haben alle den Vorteil, dass sie die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum massiv erhöhen. Abgesehen von rein technischen Argumenten ist schlicht das Wohlbefinden der Stadtbewohner der wichtigste Grund für die intensive Begrünung der Stadt - und die Straßenbahn der neuen Generation das einzige Verkehrsmittel, das neue Grünräume an Stellen ermöglicht, die früher dafür niemals in Frage gekommen wären.



Das Gesicht der Zukunft: Design pur bei der Straßenbahn in Straßburg.

Die neuen Züge gleiten lautlos über englischen Rasen, bunte Blumen oder robuste Kräuter, erreichen auf Vorortstrecken hohe Geschwindigkeiten und rollen im Schritttempo durch Fußgängerzonen. Sie sind dort, wo der Bürger sie braucht, leicht zu erreichen, billig zu errichten. Sie verknüpfen die Geschäftsstraßen mit den Außenbezirken und dem Umland, sie sind flexibel, langlebig und zuverlässig - und bieten eine echte Alternative zum Autoverkehr, wenn man sie richtig baut. Wie das geht und wie man es schafft, dass die Bevölkerung darauf begeistert reagiert, beweisen die bereits fast 30 Städte in Frankreich, die in den letzten 25 Jahren neue Straßenbahnen errichtet haben.



Nantes: sorgfältigste Aufwertung des Straßenraumes nach Bau der Straßenbahn: ,,Die Tramway hat uns einen Park gebracht"; sagen die Bewohner.

Die sorgfältige Durchgestaltung des Gesamtsystems - von der Pflasterung und Begrünung bis hin zu den Haltestellen und Fahrzeugen - führen zu hoher Identifikation der Bevölkerung mit dem neuen Verkehrsmittel. Wie in so vielen Bereichen des Lebens bestimmen auch hier Gefühle und Eindrücke den Zugang zur Sache, nicht technische Daten oder Geschwindigkeitsvorteile. Die neuen Bahnen sind einfach ,,très chic", man nutzt sie nicht, weil man keine andere Wahl hat, sondern weil man damit ,,dem armen altmodischen Autofahrer" etwas voraus hat.

Die Straßenbahn bringt damit genau die so oft geforderte Entschleunigung, die so oft geforderte Stadt der kurzen Wege und mit der ihr folgenden Neugestaltung der Straßen genau das, was so vielen Städten verlorengegangen ist: Ruhe im unmittelbaren Wohnumfeld, höchste Aufenthaltsqualität auf Straßen, die wieder zum Lebensraum werden, viel Grün, Plätze als Orte der Begegnung statt Verkehrswüsten. Es sind erste Schritte in eine neue Zeit, die zeigen, dass die ,,Post-Oil-City" Realität werden kann. Große Veränderungen machen vielen Menschen Angst, aber die französischen Städte machen deutlich, dass sie unbegründet ist, dass der Verzicht auf ungehemmten Autoverkehr Vorteile für alle bringt. Die Straßenbahn ist die städtebauliche Idee des Jahrhunderts - und sie ist die Zukunft der Städte.


Zum Autor



Harald A. Jahn ist Fotograf und Autor, beschäftigt sich mit Architektur, Stadtplanung, Wirtschaft, Soziologie und Vernetzung. Er betreibt die Bildagentur Viennaslide mit Schwerpunkt auf Reise- und Architekturfotografie.
Weiters ist er Betreiber der Website www.tramway.at und Autor des kürzlich erschienenen Buches ,,Die Zukunft der Städte - Die französische Straßenbahn und die Wiedergeburt des urbanen Raumes"

Quelle: Regionale Schienen (http://www.regionale-schienen.at/0_thema_201104.asp?mid=23)